Wahrheit des Patienten

I 30.3
Der Arzt muss vor allem lernen, die Ursachen einer Erkrankung genau festzustellen und nach Ausschaltung aller äusseren Möglichkeiten die seelischen Störungen zu ergründen suchen. Das ist natürlich nicht so einfach, wie dies gesagt wird. Dazu bedarf es einer tiefen Einsicht in die gesamte Lebensweise des Patienten. Zu leicht lässt sich der Arzt von dem beeinflussen, was der Patient ihm erzählt; es ist selten die Wahrheit. Was der Patient spricht, ist aber gar nicht so wichtig, sondern was er tut oder getan hat. Dazu bedarf es eines offenen Blickes für die ihn umgebenden Verhältnisse.

III 42.2f
Ich habe schon an anderer Stelle erwähnt, dass der Patient selten die Wahrheit sagt. Diese Feststellung darf nicht unrichtig aufgefasst werden. Es ist nicht damit gesagt, dass der Patient immer die Absicht hat, den Arzt zu belügen, nein, er kennt sich selbst nicht: seine unrichtige Einstellung zum Leben lässt ihn die Dinge falsch betrachten. Es ist zwar seine Meinung, aber er irrt oder hat das Bestreben, die Wahrheit in seinem Inneren nicht aufkommen zu lassen. Häufig allerdings ist der Patient bestrebt, seinem Arzt ein schönes Bild von sich zu geben, einen möglichst guten Eindruck zu hinterlassen, um sich - wie er meint - seine Gunst zu erwerben und in gutem Ansehen zu stehen. Nur verhältnismässig selten öffnet der Patient von selbst sein Innerstes offen und rückhaltlos.
Natürlich ist es der schönste Weg und die beste Grundlage für den Arzt, aber er muss auch dann erst untersuchen, ob die Mitteilungen des Patienten nicht im negativen Sinn übertreiben und so ein viel schlechteres Bild ergeben, als er es verdient. Wie gesagt, ein Kapitel für den Arzt, das vor allem gründliche Selbsterziehung erfordert und - wie ich schon erwähnt habe - den Stand auf hoher oder doch höherer Warte, damit er imstande ist, das richtige Urteil über die Verhaltensweisen des Patienten zu bilden.

VI 47.4ff
Dabei ist aber auch zu bedenken, dass selten die reine Wahrheit geboten wird, weder von dem Betroffenen noch von seiner Umgebung. Die Aufgabe der Helfer ist es daher, durch die mehr oder weniger ehrlichen und richtigen Darlegungen der Wahrheit näher zu kommen und nur das Wesentliche, das für die richtige Betreuung Wesentliche zu behalten.
Die menschlichen Regungen sind von so vielen Komponenten geprägt und oft dem gesprochenen Wort so entgegengesetzt, dass es grossen Einfühlungsvermögens bedarf, um die Wahrheit zu ergründen.
Dazu kommt, dass geistig Gestörte oft nicht in der Lage sind zu unterscheiden zwischen eigenen und ihnen von fremden Kräften eingegebenen Gedanken.
Es ist daher oberstes Gesetz für die Helfer, keinen Menschen zu verurteilen, ihm Eigenschaften und Fehl-verhalten als persönliches Vergehen anzulasten.




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Verwendete Textstellen aus Mediale Schriften, Dr. Karl Nowotny, Band I-VI

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Verwendete Textstellen aus Mediale Schriften, Dr. Karl Nowotny, Band I-VI
I 30.3 / III 42.2f / VI 47.4ff